Beinlängendifferenz vor und nach dem Gelenkersatz

Dr. med. Holger Haas

Immer wieder wird uns von Beinlängen-Differenzen nach dem Einsatz eines künstlichen Gelenkes berichtet, meist nach einer Hüft-TEP.
Deshalb haben wir Dr. med. Holger Haas, Chefarzt Allgemeine Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin des GK-Bonn, darum gebeten, uns nachfolgende Fragen zu beantworten:

  1. Wie und warum entstehen denn wirklich große Beinlängendifferenzen (Größer 1-2 cm)? Ist das teilweise unvermeidbar oder doch eher mangelndes Können, bzw. mangelnde Erfahrung des Operateurs?
  2. Wie und mit welcher Technik kann das wer (Arzt, Physio) exakt messen und wann nach der OP macht das wirklich Sinn? Direkt? Nach einigen Tagen/Wochen?
  3. Ab wann, welcher tatsächlichen Differenz muss das ausgeglichen werden oder gar erneut sinnvollerweise operiert werden?

Nachfolgend seine ausführliche Antworten hierzu im Wortlaut:

Es klingt so einfach: die Beine sollen nach der Operation (wieder) gleich lang sein…
Hierbei gibt es aber viele Dinge zu beachten und in manchen Fällen muss ein Kompromiss in der Operation eingegangen werden.

Beim Einbau eines künstlichen Hüft- oder Kniegelenkes müssen von der Planung bis zur Ausführung des Eingriffs viele Dinge beachtet werden, die in ihrer Summe üblicherweise ein gutes Ergebnis mit sicher verankerter und richtig ausgerichteter Prothese ergeben. So sind eine lange Haltbarkeit und sichere Funktion ohne die Gefahr eines Herausspringens der Prothese (=Luxation) möglich. Knie- und Hüftgelenke müssen dabei unterschiedlich betrachtet werden.

Kniegelenkersatz
Hierbei zählt vor allem der achsgerechte Einbau der Prothese, bei dem die in der Planung festgelegten Vorgaben unter Berücksichtigung der Weichteilspannung in der Operation umgesetzt werden. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass bereits ein 1 mm unterschiedlich dickes Inlay (=Einsatz aus Polyethylen zwischen Oberschenkel- und Unterschenkelanteil der Prothese) im Hinblick auf die Bandspannung einen Unterschied ausmacht. Damit wird es klar, dass fühlbare Beinlängenunterschiede (ab ca. 0,5 cm) nicht durch die Knieprothesenimplantation beeinflusst werden können.

Bitte beachten Sie dabei, dass es durch die Begradigung einer sehr schiefen Beinachse (X- oder O-Bein) bei der Operation bereits zu entsprechenden Auswirkungen auf die Beinlänge kommen kann.

Hüftgelenkersatz
Entgegen der Situation beim Kniegelenk kann die Beinlänge beim Hüftgelenkersatz deutlich beeinflusst werden. Grundsätzlich gilt, dass eine Verlängerung von bis zu 3 cm möglich ist, ohne den Hauptnerven am Bein (Nervus ischiadicus), der empfindlich auf eine Überdehnung reagiert, zu gefährden.

Bei einer zu starken Verkürzung des Gelenks droht die Gefahr einer herabgesetzten Muskelspannung und erhöhten Verrenkungsmöglichkeit.

Es ist allgemeine Praxis, dass der Gelenkersatz vor der Operation – oftmals auch computergestützt – exakt geplant wird. Dabei werden die Art und Größe des Implantats (der Prothese) und deren Ausrichtung festgelegt. Daraus ergibt sich dann auch die resultierende Beinlänge. Mit Messungen in der Operation versucht der Operateur sicherzustellen, dass sich die Prothese in der richtigen Position befindet und damit auch die Beinlängensituation wunschgemäß wieder hergestellt wird. Sehr häufig erfolgt dann auch eine Röntgenuntersuchung („Durchleuchtung“) während der Operation, mit der das Ergebnis kontrolliert wird und Änderungen noch erfolgen können.

Es ist jedoch nicht nur die Beinlänge, auf die während der Operation geachtet werden muss. Mit ihr zusammen hängen auch zwei weitere Parameter, die es zu beachten gilt: die Weichteilspannung der Muskulatur und die Stabilität (=Luxationssicherheit) des Gelenks.
Die Muskelspannung ist dabei wichtig für eine gute und ermüdungsfreie Funktion der Muskulatur nach der Operation. Zudem beeinflusst sie die Luxationssicherheit.
Die Luxationssicherheut wird auch durch den Abstand der Prothesenkomponenten zueinander beeinflusst. Wenn Anteile der Prothese oder auch der Knochen des Beckens und des Oberschenkels bei der Bewegung zu dicht aneinander geraten, kann es zu einer Luxation des Gelenks kommen. Dies wird in der Operation auch sehr sorgfältig überprüft.

In den allermeisten Fällen gilt: Weichteilspannung und Luxationssicherheit sind bei seitengleicher Beinlänge richtig eingestellt. Leider gibt es jedoch auch Situationen, in denen dieser Zusammenhang nicht gilt, oder andere Gründe vorhanden sind, die einen seitengleiche Beinlängeneinstellung nicht zulassen. Einige davon sind:

  • ausgeprägte Hüftdysplasie:
    Hierbei sind teilweise unterschiedlich lange Oberschenkelknochen vorhanden. Wenn nun die Prothese so eingesetzt wird, dass die Gelenkgeometrie im Gelenk richtig eingestellt ist, kann dennoch eine Beinlängendifferenz verbleiben. Hierauf muss sich der Operateur einstellen und ggf. Abweichungen entsprechend im OP-Bericht vermerken.
  • starke Beinverkürzung oder -verlängerung vor der Operation
    Die Korrekturmöglichkeiten im Hinblick auf eine Verlängerung sind durch den Zug am Nerven begrenzt. Eine zu starke Verkürzung würde die Gefahr einer Luxation erhöhen. Auch diese Abwägung des Operateurs sollte im OP-Bericht dokumentiert sein und natürlich nach der Operation mit dem Patienten besprochen werden.
  • In der Abwägung zwischen richtiger Muskelspannung, Luxationssicherheit und Beinlängengleichheit muss manchmal ein Kompromiss zu Ungunsten der Beinlänge eingegangen werden, da letztlich eine richtige Muskelspannung und die Sicherheit vor Luxationen wichtiger als eine (mäßige) Beinlängendifferenz sind. Auch hier gilt: Dokumentation im OP-Bericht und Aufklärung des Patienten sind Pflicht!

Für die Bestimmung der Beinlänge vor und nach der Operation stehen verschiedene Methoden zur Verfügung. Neben der Kontrolle in Rückenlage ist auch die Beurteilung im Stehen sehr wichtig. Dies geschieht bei gleichmäßig belasteten Beinen durch Betasten der Beckenkämme in aufgerichteter Position und des Kreuzbeins in vornübergeneigter Haltung.Neben der Beinlänge haben jedoch u.a. auch Erkrankungen des Rückens (insbesondere eine angeborene oder im Laufe der Jahre entstandene Wirbelsäulenverkrümmung) Einfluss auf den Beckenstand.
In Abhängigkeit von der körperlichen Gesamtsituation kann es sinnvoll sein, einen gewissen Beinlängenunterschied zu belassen, um den Rücken nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Aus dem Gesagten wird auch deutlich, dass eine endgültige Bewertung der Beinlänge nach einer Operation erst erfolgen kann, wenn die akuten Schmerzen nachgelassen haben und sich alles ein wenig „eingespielt“ hat. Im Zweifel sollte man bis zu 3 Monaten abwarten und dann nochmals nachmessen.

Leider sehen wir auch immer wieder Patienten, bei denen eine ausgeprägte Beinlängendifferenz (z.B. 2 cm) nach der Operation besteht, ohne dass aus den vorgelegten Unterlagen Rückschlüsse auf die Ursache für diesen Unterschied zu ziehen sind. Wir raten in diesen Fällen den Patienten dazu, sich mit dem Operateur in Verbindung zu setzen und um Aufklärung zu bitten.

Sollten Unklarheiten oder Zweifel bestehen bleiben, kann die Einholung einer Zweitmeinung sinnvoll sein.

Daneben bestehen bei den jeweiligen Ärztekammern Gutachterkommissionen, die bei dem Verdacht einer fehlerhaften Behandlung angerufen werden können. Patienten erhalten dort kostenfrei eine objektive Beurteilung ihres Falls.